Ingolstadt
Der Krankheit Beine machen

Eine junge Frau aus Ingolstadt leidet an einem Lipödem und will andere Betroffene ermutigen

06.04.2016 | Stand 02.12.2020, 19:59 Uhr
Oben Kleidergröße 40, unten 44: Tanja Scheibenbogen leidet an der Fettverteilungsstörung Lipödem. Die Ingolstädterin will die Krankheit bekannt machen. Und geht bewusst offen damit um. −Foto: Hammer

Ingolstadt (DK) Die Krankheit ist weitgehend unbekannt. Und das, obwohl rund zwei Millionen Frauen in Deutschland daran leiden: Lipödem, eine chronische, nicht heilbare Fettverteilungsstörung, nagt am Selbstbewusstsein betroffener Frauen wie kaum eine andere Krankheit. Ein Beispiel aus Ingolstadt.

Am heutigen 7. April ist Weltgesundheitstag. Ein passender Anlass, um eine junge Frau vorzustellen, von der mancher, der abfällig über Frauen mit dicken Beinen spricht, eine Menge lernen könnte. Tanja Scheibenbogen leidet am Lipödem. Jetzt weiß die 28-Jährige endlich, warum sie die Jahre zuvor, als ihre Beine langsam immer stämmiger wurden und sie von Weight Watchers über FDH bis hin zu Low Carb immer neue Diätversuche startete, nur am Oberkörper abnahm. Am Umfang ihrer Beine änderte weder die eine noch die andere Abmagerungskur etwas. Obwohl, oder gerade weil sie früher, in der Schulzeit, wegen ihrer Figur gemobbt worden war, wie die Ingolstädterin in ihrem Blog http://loveliplive.blogspot.de/ verrät, wagt sie jetzt den Gang an die Öffentlichkeit. "Ich will, dass andere vom Lipödem erfahren", sagt sie unserer Zeitung. "Damit sie wissen, dass das eine Krankheit ist." Und sie will anderen Betroffenen Mut machen. Ihnen sagen, dass man sich auch mit ein paar Kilos zu viel schön finden kann. "Wir alle sind toll und es wert, geliebt und akzeptiert zu werden, so, wie wir sind!!! Vergesst das bitte nie!!!", schreibt Scheibenbogen in ihrem Internet-Blog. Mutige Worte von einer mutigen jungen Frau.

Dass ihre Krankheit bekannt wurde, ist mehr oder weniger einem Zufall geschuldet. Die gelernte Landschaftsgärtnerin hatte sich vergangenes Jahr bei einem Unfall auf einer privaten Feier einen Kreuzbandriss zugezogen. Als sie in der Nachsorge bei der Physiotherapie war, fragte sie die Therapeutin, ob sie schon einmal etwas über die Erkrankung Lipödem gehört habe. Sie verneinte. Sie ging daraufhin zum Spezialisten. Und hatte, wie sie selbst sagt, Glück, innerhalb von zwei Monaten einen Termin zu bekommen. In Deutschland gibt es nur rund 15 Mediziner, die sich auf das Gebiet spezialisiert haben - einer davon ist in Ingolstadt: der Dermatologe, Allergologe, Phlebologe und Lymphologe Hans-Ulrich Püschel. Er hat 2007 in der Region 10 ein Lymphqualitätsnetz gegründet. Es ist mittlerweile das größte Lymphnetz in Deutschland. Mehrmals im Jahr treffen sich Lymphologen, Lymphtherapeuten und Sanitätshäuser zum Erfahrungsaustausch. Ziel ist, dass alle zusammenarbeiten und die Behandlung der Patienten dadurch verbessert werde, erklärt Püschel. In seiner Praxis werden jährlich bis zu 3000 Frauen wegen Lipödem oder Lymphödem behandelt.

Allzu viel weiß man über die Krankheit nicht. Selbst über die Anzahl der Betroffenen gibt es unterschiedliche Angaben. Während die eine Studie von einer Million an einem Lipödem erkrankten Frauen in Deutschland ausgeht, kommt eine andere auf über drei Millionen. "Die Zahl liegt wohl irgendwo dazwischen", sagt Püschel. Fest steht jedoch: Es sind ausschließlich Frauen betroffen. In der Regel wird die Erkrankung des Fettgewebes vererbt. Außerdem weiß man, dass sie meist nach hormonellen Umschwüngen wie Pubertät oder Schwangerschaft auftritt. "Sie hat jedenfalls nichts mit zu viel essen zu tun", so Püschel.

Das Lipödem lässt nicht nur den Fettmantel in den Beinen (und mitunter auch in den Armen) wachsen, sondern ist auch eine Erkrankung des Lymphsystems. Im fortgeschrittenen Stadium kann es zu einem Lipo-Lymphödem führen, einer Folgeerscheinung des Lipödems. Überdies neigen Lipödem-Patientinnen zu blauen Flecken. Druckschmerz, Kneifempfindlichkeit, Schmerzen im Fettgewebe: Die Liste der Beschwerden Betroffener ist lang.

Langfristig bekämpfen lässt sich das Lipödem nur durch Fettabsaugung. Der Lymphologe und sein ebenfalls darauf spezialisierte Praxispartner führen den um die drei Stunden dauernden Eingriff etwa 100-mal im Jahr durch. Die Patientinnen kommen aus ganz Deutschland. Dabei werden zwischen vier und neun Litern Fett abgesaugt. In der Regel sind drei Operationen nötig. Sie kosten insgesamt rund 15 000 Euro und werden gegenwärtig von den gesetzlichen Krankenkassen nur in Ausnahmefällen bezahlt. Das Bundessozialgericht hat 2008 eine Klage auf Kostenübernahme abgelehnt. Derzeit überprüft der gemeinsame Bundesausschuss in Berlin die Operationsverfahren auf Nutzen und Risiken. Eine Entscheidung, ob die Liposuktion, so der medizinische Fachbegriff, bei Lipödem in den Leistungskatalog aufgenommen wird, steht noch aus.

Tanja Scheibenbogen, der ein Lipödem Grad zwei diagnostiziert worden war, macht erst einmal eine konservative Therapie. Nach einer "Entstauungsphase", während der sie täglich zur manuellen Lymphdrainage musste, trägt sie nun eine flach gestrickte Kompressionsstrumpfhose und geht einmal wöchentlich zur Lymphdrainage. Langfristig wird sie um die OP nicht herumkommen. Doch bevor sie bei ihrer Kasse nach der Kostenübernahme anfragt, will sie alle herkömmlichen Methoden ausschöpfen. Private Kassen übernehmen die Kosten für die OP auch bisher schon. Weil sie langfristig damit sparen. Hochgerechnet kommt eine konservative Therapie bei einer 30-jährigen Frau lebenslang auf bis zu 250 000 Euro - über 16-mal mehr als die Fettabsaugung.

Eine Selbsthilfegruppe Lymphödem/Lipödem (SHG Lily Ingolstadt) trifft sich jeden zweiten Mittwoch im Monat von 19 bis 21 Uhr im Bürgerhaus Neuburger Kasten, Fechtgasse 6, in Ingolstadt. Ansprechpartnerin ist Sonja Scheidl.